Abgrenzen ist so viel mehr, als einfach nur „Nein“ sagen.
Mir begegnen regelmäßig Menschen, die Abgrenzen mit Ausgrenzen gleichsetzen und z. B. sagen: „Abgrenzen reicht nicht. Man muss die Dinge auch angehen.“
Wenn ich von Abgrenzen spreche, meine ich allerdings genau das. Und deswegen verwende ich auch gerne den Begriff „empathisches Abgrenzen“.
Mit diesem Artikel möchte ich ein paar Missverständnisse auflösen und klären, was Abgrenzen wirklich ist.
Dieser Blogartikel wurde im Oktober 2021 zum ersten Mal veröffentlicht und im Mai 2024 aktualisiert.
Inhalt
Was Abgrenzen nicht (nur) ist
Was Abgrenzen wirklich ist
Darum spreche ich von empathischem Abgrenzen
Noch mal in kurz
Was Abgrenzen nicht (nur) ist
Die meisten Menschen, mit denen ich übers Abgrenzen spreche, glauben, dass es dabei lediglich um das Setzen äußerer Grenzen geht:
- Nein sagen
- Kontakte abbrechen oder reduzieren
- Job oder Umfeld wechseln
- dicht machen
- usw.
Und schnell kommt dann das Gefühl auf, dass man egoistisch sein müsste, um sich abzugrenzen. Dass man über den Dingen stehen müsste und andere einem egal sein müssten. Man bräuchte auch einfach ein dickeres Fell.
Dabei ist das gar nicht nötig. Und ich bezweifle auch, dass das wirklich auf gesundem Wege funktioniert.
Was Abgrenzen wirklich ist
Nach außen hin Grenzen zu setzen ist wichtig. Nur sollte es nicht allein dabei bleiben.
Ganz oft wird nur nach Strategien gesucht, die dann „einfach“ umgesetzt werden wollen. Du solltest dir aber immer auch deiner inneren Lebensregeln bewusst sein, die ein gesundes Abgrenzen entweder verhindern oder möglich machen.
Was ich damit meine: Jeder von uns handelt nach entsprechenden Glaubenssätzen und inneren Überzeugungen. Die sind meist unbewusst, können aber durch Reflexion bewusst gemacht werden. So eine innere Überzeugung wäre z. B. „Wenn ich nicht immer für alle da bin, werde ich abgelehnt und ausgegrenzt“. Daraus ergibt sich die Lebensregel „Ich muss immer erst für andere da sein“.
Diese „Lebensregeln“, die das gesunde Abgrenzen verhindern, sind – wie schon gesagt – oft nicht bewusst. Sie waren allerdings mal für etwas gut: Du hast irgendwann mal gelernt, dass du z. B. eher angenommen wirst, wenn du deine Bedürfnisse hinten anstellst und ein Leben führst, das von anderen akzeptiert wird.
Diese Lebensregeln dienten also mal dem Selbstschutz, sind inzwischen aber zu Stressfallen geworden: Irgendwas in dir glaubt, dass du nicht sicher bist, so wie du ohne deine erlernten Lebensregeln bist. Dass du nicht akzeptiert wirst, wenn du einfach nur Du bist. Vielleicht wirst du gerade so noch geduldet, aber du hast nicht das Gefühl, wirklich dazu zu gehören – du bist nicht sicher, so wie du bist.
Ein wichtiger Schritt zu einer tiefgreifenden Veränderung ist also, dieses noch fehlende Sicherheitsgefühl herzustellen.
Ein fehlendes Sicherheitsgefühl – ob bewusst wahrgenommen oder nicht – ist immer ein Zeichen eines (dauerhaft) erhöhten Stresslevels. Deswegen ist die gesunde Stressbewältigung und das Reduzieren des durchschnittlichen Stresslevels auf einen gesunden Bereich eine wichtige Grundlage fürs empathische Abgrenzen.
Wie du deinen Stress messen kannst und warum du das tun solltest, kannst du hier nachlesen.
Neben dem äußeren Setzen von Grenzen ist es also wichtig, auch das innere Zusammenspiel zu verstehen. Sonst sind deine Lösungen nicht von Dauer und du wirst dich irgendwann einfach nur zumauern, statt dich gesund abzugrenzen. Am Ende weißt du nicht mehr, wer du eigentlich bist und Unzufriedenheit wird dein zweiter Vorname. Was sich natürlich wieder negativ auf dein dauerhaftes Stresslevel auswirkt.
Frage dich deswegen immer auch, auf Grund welcher Lebensregel du es zulässt, dass z. B. keine Luft mehr für dich selbst bleibt. Und frage dann weiter, welche tiefer liegenden Annahmen über dich, das Leben oder andere Menschen hinter diesen Lebensregeln liegen.
Abgrenzen ist in erster Linie ein selbstmitfühlender Umgang mit den eigenen Ängsten, Bedürfnissen und Lebensregeln.
Darum spreche ich von empathischem Abgrenzen
Ich benutzte gerne den Begriff „empathisches Abgrenzen“. Um deutlich zu machen, dass Abgrenzen eben nicht heißt, einfach nur eine Grenze zu setzen und „dicht zu machen“, weniger wahrzunehmen, weniger zu fühlen und andere oder sich selbst auszugrenzen.
Im Gegenteil: Gesund abgrenzen heißt oft, mehr zu fühlen und mehr wahrzunehmen. Gleichzeitig heißt es, diese Wahrnehmungen besser zu sortieren – sie gegeneinander abzugrenzen. Du kannst dann z. B. deine eigenen Bedürfnisse und Ängste besser von denen deiner Mitmenschen unterscheiden. Du kennst deinen eigenen Handlungsspielraum und weißt, wo deine Verantwortung liegt und wo nicht. Wir übernehmen nämlich oft viel zu viel Verantwortung.
Ein einfaches Beispiel aus dem Alltag: Einer Freundin oder einer Arbeitskollegin geht es nicht gut. Sie ist wegen irgendetwas traurig oder gestresst. Du verspürst dann wahrscheinlich das Bedürfnis, ihr helfen zu wollen, damit es ihr schnell wieder besser geht. Und vielleicht gibst du ihr dann einen Rat.
An deinem Bedürfnis, zu helfen, ist alles in Ordnung. Wo man nun ein bisschen achtsamer werden kann, ist die Art und Weise, wie (und warum) man hilft:
Wir wollen, dass für die andere Person schnell alles wieder gut ist, damit wir deren Kummer und Schmerz nicht mehr fühlen müssen. Weil wir mit diesen Emotionen nur schlecht umgehen können. Ein schneller und gut gemeinter Rat hilft oft nicht oder nur kurzzeitig und zieht den Schmerz am Ende unnötig in die Länge. Oft ist es besser, einfach nur da zu sein, zuzuhören und die Emotionen erst mal einfach da sein zu lassen. Oder zu fragen, was unser Gegenüber eigentlich gerade braucht, was er sich von uns wünscht, wie wir vielleicht helfen könnten.
Wenn du lernst, mit deinen eigenen Emotionen gut umzugehen, kannst du besser für andere da sein, weil du auch mit deren Emotionen gut umgehen kannst. Das ist natürlich der Ideal-Zustand. Auch mir gelingt das nicht immer. Das ist nur menschlich und absolut in Ordnung. Es geht um das grundlegende Bewusstsein über solche inneren Prozesse und um ausreichend Selbsterkenntnis. Perfekt sind wir alle nicht. Und das soll auch nicht der Anspruch sein. Es ist sowie immer alles ständig im Wandel.
Noch mal in kurz
Abgrenzen bezieht sich nicht nur auf Dinge wie:
- Nein sagen
- Kontakte abbrechen oder reduzieren
- Job oder Umfeld wechseln
- dicht machen
- usw.
Abgrenzen bedeutet auch – und vor allem:
- sich selbst kennen und das „innere Zusammenspiel“ verstehen
(Dazu gehört z.B. auch, die natürlichen und notwendigen „Tiefpunkt-Phasen“ einer Entwicklung von Rückschritten oder Stillstand abzugrenzen. Schau dir mal diesen Blogartikel an, wenn du das Gefühl hast, Rückschritte zu machen oder dich im Kreis zu drehen.) - eigene Ängste, Glaubenssätze und Stressmuster von denen der Mitmenschen unterscheiden (Projektionen und Übertragungen erkennen)
- (Selbst-) Mitgefühl und Verständnis aufbringen – ohne deswegen mit allem einverstanden sein zu müssen
- einen gesunden Umgang mit den eigenen Stressmustern finden und diese nach und nach auflösen
- mitfühlen statt mitleiden
- eigene Grenzen setzen und achten (und auch ggf. wieder öffnen)
- Grenzen anderer achten und wahren
Nur, wenn du dich selbst gut kennst, kannst du aus deinen Stresskreisläufen aussteigen und dich dauerhaft gesund abgrenzen – ohne dem Perfektionismus zu verfallen.
Du weißt nicht genau, wie du anfangen sollst? Dann schau mal hier: Empathisch abgrenzen in 3 Schritten
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