Was ist empathisches Abgrenzen?

Abgrenzen ist so viel mehr, als einfach nur „Nein“ sagen.

Mir begegnen immer mal wieder Menschen, die sagen: „Abgrenzen reicht nicht. Man muss die Dinge auch angehen.“

Wenn ich von Abgrenzen spreche, meine ich allerdings genau das. Und deswegen verwende ich auch gerne den Begriff „empathisches Abgrenzen“.

Mit diesem Artikel möchte ich ein paar Missverständnisse aus der Welt schaffen und klären, was Abgrenzen wirklich ist.

Inhalt

Was Abgrenzen nicht (nur) ist

Was Abgrenzen wirklich ist

Lebensregeln verhindern ein gesundes Abgrenzen

Du bist erschöpft, weil du gegen dich selbst kämpfst

Darum spreche ich von empathischem Abgrenzen

Ein Beispiel: Ich bin sehr anfällig für den Stress der anderen

Noch mal in kurz

Was Abgrenzen nicht (nur) ist

Die meisten Menschen, mit denen ich übers Abgrenzen spreche, glauben, dass es dabei lediglich um das Setzen äußerer Grenzen geht:

  • Nein sagen
  • Kontakte abbrechen oder reduzieren
  • Job oder Umfeld wechseln
  • dicht machen
  • usw.

Und schnell kommt dann das Gefühl auf, dass man egoistisch sein müsste, um sich abzugrenzen. Dass man über den Dingen stehen müsste und andere einem egal sein müssten. Man bräuchte auch einfach ein dickeres Fell.

Dabei ist das gar nicht nötig. Und ich bezweifle auch, dass das wirklich auf gesundem Wege funktioniert.

Was Abgrenzen wirklich ist

Nach außen hin Grenzen zu setzen ist wichtig. Nur kommt dieser Teil eigentlich erst viel später.

Ich meine damit nicht, dass du nicht sofort eine Grenze setzen kannst, um dich zu schützen oder deinen Akku zu laden. Das Problem ist aber oft, dass es beim äußerlichen Setzen von Grenzen bleibt.

Ganz oft wird nur nach Strategien gesucht, die dann „einfach“ umgesetzt werden wollen. Dabei hat es ja einen Grund, warum das gesunde Abgrenzen bisher schwerfällt.

Lebensregeln verhindern ein gesundes Abgrenzen

Jeder von uns handelt nach entsprechenden Glaubenssätzen und inneren Überzeugungen. Die sind meist unbewusst, können aber durch Reflexion bewusst gemacht werden.

Wenn du dich nicht ausreichend abgrenzt, dann nur, weil du eine negative Konsequenz fürchtest. Oft, ohne dir zunächst darüber bewusst zu sein. Das heißt, du koppelst deinen Selbstwert an eine bestimmte Bedingung – z.B. „Wenn ich nicht immer für alle da bin, werde ich abgelehnt und ausgegrenzt.“

Diese „Lebensregeln“, die das gesunde Abgrenzen verhindern, sind – wie schon gesagt – oft nicht bewusst. Sie waren allerdings mal für etwas gut: Du hast irgendwann mal gelernt, dass du z.B. eher angenommen wirst, wenn du deine Bedürfnisse hinten anstellst.

Diese Lebensregeln dienten also mal dem Selbstschutz. Sie haben dir geholfen, nicht abgelehnt zu werden. Damals konntest du dir nicht anders helfen. Inzwischen sind sie aber zu Stressfallen geworden.

Und vielleicht hast du dann den Glaubenssatz bzw. die Grundannahme entwickelt, dass es egoistisch wäre, sich nicht zuerst um die anderen zu kümmern. 

Du bist erschöpft, weil du gegen dich selbst kämpfst

Ist es wirklich egoistisch, sich um seine eigenen Bedürfnisse zu kümmern? Das darfst du dich ruhig immer wieder fragen. Ist es egoistisch, dafür zu sorgen, dass der eigene Akku ausreichend voll bleibt? Damit man sich dann umso besser auch um die Bedürfnisse anderer kümmern kann?

Es geht beim gesunden Abgrenzen nämlich gar nicht darum, alles nur für sich selbst zu tun. Du wirkst auch immer auf dein Umfeld. Wenn du gestresst bist, färbt das ab. Wenn du insgesamt in dir ruhst aber auch. (Achtung: Grenze klar ab, wo du die Verantwortung auch gut bei den anderen lassen kannst und solltest.)

Du bist wahrscheinlich nicht ständig erschöpft, weil dein Tag so voll ist und alle anderen immer nur von dir fordern. Zumindest nicht nur. Du bist wahrscheinlich vor allem deswegen erschöpft, weil du gegen dich selbst ankämpfst. Weil da ein alter unbewusster Selbstschutzmechanismus aktiv ist, eine alte Lebensregel. Und dieser Schutzmechanismus siegt immer. Zumindest, solange er dir nicht bewusst ist.

Das heißt: Irgendwas in dir glaubt, dass du nicht sicher bist, so wie du ohne deine erlernten Lebensregeln bist. Der erste Schritt einer tiefgreifenden Veränderung ist also, dieses noch fehlende Sicherheitsgefühl herzustellen (nachdem du deine Lebensregel erkannt hast).

Ein fehlendes Sicherheitsgefühl – ob bewusst wahrgenommen oder nicht – ist immer ein Zeichen eines (dauerhaft) erhöhten Stresslevels. Deswegen ist die gesunde Stressbewältigung und das Reduzieren des durchschnittlichen Stresslevels auf einen gesunden Bereich eine wichtige Grundlage fürs empathische Abgrenzen.

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Wie du deinen Stress messen kannst und warum du das tun solltest, kannst du hier nachlesen.

Und falls du dich jetzt fragst, wie du es sonst anders machen sollst (denn der Tag ist ja nun mal stressig und die Aufgaben oder Mitmenschen lösen sich nicht in Luft auf) – das ist an dieser Stelle noch gar nicht unbedingt dran. Damit würdest du wieder wichtige Schritte überspringen und nur nach äußerlichen Handlungsstrategien suchen, ohne dein „inneres Zusammenspiel“ zu verstehen. Solche „Lösungen“ sind meist nicht von Dauer.

Du könntest stattdessen damit beginnen, dich zu fragen, auf Grund welcher Lebensregel (und welcher dahinter liegenden Annahme über dich, das Leben oder andere) du es zulässt, dass keine Luft mehr für dich selbst bleibt. 

Abgrenzen ist in erster Linie ein selbstmitfühlender Umgang mit den eigenen Ängsten, Bedürfnissen und Lebensregeln.

Darum spreche ich von empathischem Abgrenzen

Ich benutzte gerne den Begriff „empathisches Abgrenzen“. Um deutlich zu machen, dass Abgrenzen eben nicht heißt, einfach nur eine Grenze zu setzen und „dicht zu machen“, weniger wahrzunehmen, weniger zu fühlen.

Im Gegenteil: gesund abgrenzen heißt, mehr zu fühlen und mehr wahrzunehmen. Und es heißt auch, diese Wahrnehmungen besser zu sortieren – sie gegeneinander abzugrenzen. Du kannst z.B. deine eigenen Bedürfnisse und Ängste dann besser von denen deiner Mitmenschen unterscheiden. 

Ein Beispiel: Ich bin sehr anfällig für den Stress der anderen

Ich habe irgendwann herausgefunden, dass ich von Natur aus sehr sensibel auf den Stress anderer reagiere, was sich allerdings anfühlt, als wäre es mein eigener Stress.

Wenn ich nun weiterhin glaube, dass es mein Stress ist, halte ich unnötig lange an diesem Stress fest und versuche – um den Stress zu senken – Themen zu bearbeiten, die ich gar nicht bearbeiten kann, weil es nicht meine Themen sind. Ich nehme in solchen Momenten einfach nur die Themen und Stimmungen anderer auf.

Wenn ich mich selbst gut kenne und verstehe und dadurch weiß, dass ich in gewissen Situationen nur den Stress der anderen Person spüre (und verstärke!), kann ich doch ganz anders damit umgehen.

Noch mal in kurz

Abgrenzen bezieht sich nicht nur auf Dinge wie:

  • Nein sagen
  • Kontakte abbrechen oder reduzieren
  • Job oder Umfeld wechseln
  • dicht machen
  • usw.

Abgrenzen bedeutet auch – und vor allem:

  • sich selbst kennen und das „innere Zusammenspiel“ verstehen (dazu gehört z.B. auch, die natürlichen und notwenigen „Tiefpunkt-Phasen“ einer Entwicklung von erlernten Stressmustern oder Rückschritten abzugrenzen)
  • eigene Ängste, Glaubenssätze und Stressmuster von denen der Mitmenschen unterscheiden (Projektionen und Übertragungen erkennen)
  • (Selbst-) Mitgefühl und Verständnis aufbringen – ohne deswegen mit allem einverstanden sein zu müssen
  • einen gesunden Umgang mit den eigenen Stressmustern finden und diese nach und nach auflösen
  • mitfühlen statt mitleiden
  • eigene Grenzen setzen und achten (und auch ggf. wieder öffnen)
  • Grenzen anderer achten und wahren

Nur, wenn du dich selbst gut kennst, kannst du aus deinen Stresskreisläufen aussteigen und dich dauerhaft gesund abgrenzen.

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Du weißt nicht genau, wie du anfangen sollst? Dann schau mal hier: Empathisch abgrenzen in 3 Schritten

Wenn du Fragen zum Thema hast oder deine Gedanken und Erfahrungen mit mir teilen möchtest, kommentiere unten, schreib mir hier oder sende deine Fragen und Gedanken hier anonym ein. Danke für deine Zeit 🙂

Foto von Sebastian Beck von Pexels

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Anett Enderlein - Psychologisches Coaching

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