Viele Menschen streben nach Perfektion. Warum das so ist und wie du dich selbst Schritt für Schritt vom Perfektionismus befreien kannst, zeige ich dir hier.
Was ist Perfektionismus?
„Beim Versuch alles richtig zu machen, kann man viel falsch machen, denn keiner ist perfekt!“ (Lisa Zimmermann)
Dabei streben Perfektionisten eigentlich nach Fehlervermeidung und Vollkommenheit. Das Problem dabei: Sie sind mit sich und ihrer Arbeit nie wirklich zufrieden und werden dadurch auch nie fertig. Auch die Fehler anderer stressen den Perfektionisten ungemein, selbst wenn es gar keine Fehler sind, sondern einfach nur andere Ergebnisse als erwartet. Das sorgt natürlich häufig für Spannungen und Streit. Da jeder Mensch andere Ansichten hat und Fehler „von der Natur vorgesehen“ sind, weil ohne sie im Prinzip keine Entwicklung stattfinden kann, ist Perfektion aber nichts weiter als ein Trugbild. Es gibt sie nicht.
Warum streben dann so viele Menschen nach Perfektion?
Zu etwa 50% ist die Neigung zum Perfektionismus angeboren. Diese kann durch Einflüsse von außen (z.B. Erziehung oder fehlende Akzeptanz) verstärkt werden.
Auch unser Job stellt mitunter sehr hohe Ansprüche an uns. Es gibt Jobs, da geht es tatsächlich um Leben und Tod. Ich denke da beispielsweise gerade an den Herzchirurgen oder an das Personal in einer Notaufnahme. Hier ist schnelles und richtiges Handeln gefragt. Denn es geht um mehr, als nur um Geld. In den meisten Jobs sind wir jedoch nicht einem solchen Druck ausgesetzt – theoretisch.
Denn in vielen Fällen sind wir es doch selbst, die keine Fehler erlauben. Diese Ansprüche an uns selbst und an andere sind häufig anerzogen oder resultieren aus Erfahrungen. Es entstehen sogenannte Glaubenssätze. Während unseres gesamten Lebens, aber ganz besonders während der Kindheit, verfestigen sich diese Glaubenssätze in unseren Köpfen. Sie sind nicht prinzipiell falsch oder schlecht. Es kommt dabei immer auf die Situation an, in der wir nach diesen Sätzen (unbewusst) handeln. Ein Satz, den du vielleicht auch aus deiner Kindheit kennst, ist zum Beispiel: „Was sollen denn die Nachbarn denken?“ Dahinter steckt möglicherweise der Glaubenssatz: „Sei perfekt!“ Bzw. „Mach es möglichst jedem recht!“
Warum sind viele Hochsensible Perfektionisten?
Keiner wird gerne kritisiert. Hochsensible Personen aber fürchten Kritik meist noch mehr als andere. Sie haben Angst, Fehler zu machen und aufgrund dieser Fehler ausgegrenzt zu werden. Denn viele haben bereits in der Kindheit Erfahrungen mit Ausgrenzung gemacht und wollen diese nun häufig um jeden Preis verhindern. Um Fehler zu vermeiden und Kritik vorzubeugen, wird also Perfektion angestrebt.
Oft steckt hinter Perfektionismus auch der Wunsch, die Kontrolle zu behalten. Manche Menschen werden nervös, wenn andere sich nicht so verhalten, wie sie es von ihnen erwarten. Dahinter steckt oft die Angst, nicht voraussehen zu können, was als nächstes passiert. Sie können sich somit nicht auf den nächsten Moment vorbereiten. Und wenn sie nicht vorbereitet sind, fühlen sie sich hilflos.
Da viele Hochsensible einen Blick fürs Detail besitzen, fallen ihnen Fehler aber auch einfach schneller auf als anderen. Für manche Lebenssituationen oder Jobs (z.B. in der Qualitätssicherung) kann das sehr hilfreich sein. Problematisch wird das Ganze aber dann, wenn diese Fehlersuche zur Gewohnheit wird und sich auch auf andere Lebensbereiche überträgt.
Perfektionismus und Stress
Da es Perfektion nicht gibt, entsteht natürlich ein stressender Teufelskreis, wenn du trotzdem ständig versuchst, sie zu erreichen. Du kommst einfach nicht ans Ziel, also tust du noch mehr, arbeitest noch genauer und kontrollierst alles noch besser. Du bist mitten drin im Stress-Strudel. Zusätzlich leiden deine zwischenmenschlichen Beziehungen darunter, da es oft Streit gibt. Wenn du zu den besonders harmoniebedürftigen Hochsensiblen zählst, hast du hier deine nächste große Stressquelle.
Was dauerhafter Stress anrichten kann, ist inzwischen allgemein bekannt. Herz-Kreislauf-Beschwerden, Schmerzen (Kopf, Nacken, Rücken, Gelenke), Magen-Darm-Störungen, Schlafstörungen, Allergien, Hautirritationen, Zähneknirschen und psychische Erkrankungen sind nur einige der Folgen. Es gibt also viele Gründe, warum Perfektionismus eingeschränkt werden sollte.
So kannst du Perfektionismus überwinden
Um Perfektionismus abzulegen oder auf ein gesundes Maß zu reduzieren, musst du ihn wirklich überwinden WOLLEN. Denn hierfür sind einige kleine Änderungen deiner Gewohnheiten nötig, die du, wenn du es halbherzig angehst, vielleicht sonst nicht durchhalten würdest.
Ich würde dir an dieser Stelle gerne sagen, dass es ganz einfach ist. Aber leider kann es, gerade zu Beginn, etwas ungemütlich für dich werden. Besonders, wenn du dir zu viel vornimmst.
Es lohnt sich aber! Und es wird leichter! Wenn du geduldig dranbleibst und dich an folgenden Schritten orientierst:
Schritt 1 – Schaffe dir Bewusstsein
Mache dir jeden Tag bewusst, dass Perfektion nur in deinem Kopf existiert. Sie ist eine reine Interpretationssache und sieht für jeden Menschen anders aus. Die meisten merken nicht einmal, wenn du beispielsweise ein Ergebnis ablieferst, was nach deiner Ansicht nur zu 80% erfüllt ist. Denn diese 80% sind meist schon gut genug. Und besser muss es nicht sein. Stellen sich dir jetzt die Nackenhaare auf, wenn du das liest? Würdest du jetzt am liebsten sagen „Ja, aber…“? Das kann ich gut verstehen. „Gut genug“ klingt vermutlich für dich nicht so berauschend, ist in den allermeisten Fällen, aber absolut ausreichend. Du wirst dich mit der Zeit daran gewöhnen.
Schritt 2 – Beobachte dich
In welchen Situationen reagierst du wie? Was stört dich genau? Warum? Was fühlst du in diesen Momenten? Was denkst du? Was befürchtest du? Wie reagierst du? Welche Handlungsimpulse zeigen sich? Es ist sehr hilfreich, wenn du diese Beobachtungen über einige Tage oder Wochen jedes Mal aufschreibst.
Mehr musst du erst mal gar nicht tun. Es ist auch noch nicht nötig, etwas in deinem Verhalten zu ändern. Nur beobachten und aufschreiben. So lange, bis du denkst, du hast genug gesammelt. Normalerweise solltest du dann durch das Aufschreiben sensibilisiert genug sein, dass du dir diese Fragen schon automatisch selber stellst, und zwar genau in dem Moment, in dem sich dein Perfektionismus zeigen möchte.
Schritt 3 – Nimm dir die Angst
Nimm dir nacheinander die Situationen vor, die du in Schritt 2 gesammelt hast und frage dich zu jeder Situation „Was passiert Schlimmes, wenn es nicht perfekt ist? Und wie schlimm bzw. wie realistisch ist es tatsächlich?“. Auf jede Antwort, die du findest, fragst du weiter „Und was passiert dann? Wie schlimm bzw. wie realistisch ist das wirklich?“. Das Ganze machst du für jede Situation so lange, bis du merkst, dass davon kein Leben bedroht ist. Die meisten unserer Sorgen werden niemals Realität.
Durch diese Fragen (und die Erkenntnis, dass nichts Schlimmes passieren wird) kannst du deinen Fokus auf etwas Gutes lenken. Das Gehirn ist nicht in der Lage, sich mit zwei Informationen gleichzeitig zu beschäftigen. Da Stress (ausgelöst durch Perfektion) durch unsere Gedanken entsteht, kann du hier aktiv gegensteuern: Gute Gedanken – weniger Stress.
Schritt 4 – Suche dir alternative Reaktionen
Aus all deinen Situationen, die du in Schritt 2 gesammelt hast, kannst du dir jetzt EINE aussuchen, die häufiger vorkommt. Für diese Situation überlegst du dir, wie du zukünftig darauf reagieren möchtest: Was möchtest du fühlen? Was möchtest du denken? Was möchtest du sagen? Mit wem möchtest du reden? Was möchtest du tun? Du machst dir sozusagen einen Plan und schreibst ihn auf. Formuliere ihn am besten so, als würdest du bereits danach handeln. Das kann z.B. so aussehen: „Wenn xy passiert, denke ich STOPP! und innerlich zähle ich erst einmal bis 10. Ich atme tief durch bis sich die ersten Impulse gelegt haben. Dann erinnere ich mich daran, dass es Schlimmeres gibt. Danach frage ich mich, ob diese Situation jetzt ein Problem darstellt oder ob sie so bleiben kann. Sollte ein Problem bestehen, sage ich mir, dass es nicht groß genug ist, um nicht gelöst zu werden…“
Wenn du deinen Plan hast, lies ihn dir jeden Morgen laut vor, um dich daran zu erinnern. Du kannst auch die wichtigsten Punkte deines Plans immer wieder aufschreiben. Damit programmierst du dich quasi ein Stückchen um. Irgendwann wird es für dich zur Gewohnheit werden, so zu denken.
Schritt 5 – Reagiere gelassener
Nun kannst du deinen Plan aus Schritt 4 anwenden. Zu Beginn wird es wahrscheinlich häufiger nicht funktionieren und du wirst in deine üblichen Verhaltensmuster fallen. Das ist ganz normal. Solch eine Änderung braucht viel Übung. Sei unbedingt nachsichtig und verzeihe dir selbst, wenn es noch nicht so klappt, wie gewünscht. Gewohnheiten sind tief eingebrannt und nicht leicht zu ändern. Dranbleiben wird aber belohnt!
Nach ein bisschen Übung (und einigen Rückfällen) reagierst du auch in anderen Situationen wahrscheinlich automatisch gelassener. Falls nicht, kannst du diese Anleitung auch nach und nach auf die übrigen Situationen übertragen und Schritt für Schritt abgehen. Je kleiner die Schritte, desto besser.
Dein Perfektionismus wird vermutlich nie komplett verschwinden und sich immer mal wieder zeigen wollen. Eine Reduktion auf ein gesundes Maß wird dir aber deutliche Verbesserungen in deinem Stressempfinden bringen. Wichtig ist wirklich, dass du nicht den Anspruch hast, deinen Perfektionismus von heut auf morgen abzulegen. Wenn ich dir beim Durchhalten helfen soll oder du bei deiner Planung nicht weiterkommst, kannst du dich natürlich gerne an mich wenden. Schreib mir einfach! 😊
Schritt 6 – Halte deine Erfolge fest
Damit du dich in Phasen, in denen es nicht so gut läuft, daran erinnern kannst, was du schon alles geschafft hast, ist es wichtig, diese Erfolge schriftlich festzuhalten und sie immer mal wieder durchzulesen. Am einfachsten ist es auch hier, wenn du eine gewisse Routine entwickelst (z.B. jeden Abend nach dem Essen 10 Minuten Zeit nehmen).
Das „Nicht-perfekt -Sein“ üben
Unabhängig von Situationen, die passieren und auf die du reagieren musst, kannst du das „Nicht-perfekt-Sein“ auch eigenständig üben. Suche dir dafür ein paar Dinge aus dem Alltag, bei denen du keine wesentlichen Konsequenzen befürchten musst, wenn sie nicht ganz nach (deinem) Plan laufen. Das sollten Dinge sein, auf die du persönlich sehr großen Wert legst und die deswegen bisher immer perfekt sein mussten.
Beispiele:
- Geh mit einer ungebügelten (oder zumindest schlecht gebügelten) Bluse aus dem Haus.
- Komme absichtlich 5 Minuten zu spät zu einer Verabredung.
- Lass die Küche einen Tag unaufgeräumt oder ignoriere den Wäscheberg.
- Korrigiere oder kommentiere keine eignen Rechtschreibfehler in Textnachrichten.
- …
Dieses Üben soll dir helfen, deine Gewohnheiten in kleinen Schritten zu ändern und zu erkennen, dass nichts Schlimmes passiert, wenn die Dinge nicht perfekt sind. Auch wenn es dich zunächst viel Überwindung kostet: Halte durch! Und halte auch hier deine Erfolge fest!
Fazit
Perfektion gibt es nur in unserer Vorstellung. Für jeden bedeutet „perfekt sein“ etwas anderes. Folglich ist es einfach unmöglich, es allen (inklusive dir) recht zu machen. Diese Versuche enden mit schlechter Laune, Stress sowie Beziehungs- und Gesundheitsproblemen. Und die Unsicherheit verschwindet dadurch trotzdem nicht. Da der Hang zum Perfektionismus aber zu einem gewissen Teil angeboren ist, solltest du nicht versuchen, diesen komplett zu überwinden. Eine Reduktion auf ein gesundes Maß ist jedoch mit etwas Geduld und Nachsicht sehr gut möglich.
„Das Unperfekte von der anderen Seite betrachtet, ist dann doch ziemlich perfekt.“ (Christian Lenz)
Bist du auch ein Perfektionist?
Welche Erfahrungen hast du gemacht? Wie konntest du deinen Perfektionismus vielleicht sogar schon überwinden? Hast du Fragen zum Thema? Hinterlasse doch einen Kommentar oder schreibe mir eine Nachricht.
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Hallo. Ein sehr spannender Artikel- da finde ich mich stellenweise doch sogar wieder. Ich muss zugeben- diese ganzen Schritte schreckten mich zuerst ab- aber mir ist schon auch klar- von nichts kommt nichts- Ich werde es probieren. Vielen Dank für den Beitrag- weiter so 😊
Danke Suse 😊
Ja, dass das abschreckend wirkt, kann ich sehr gut verstehen. Ich finde es toll, dass du es trotzdem versuchen möchtest und wünsche dir viel Erfolg und Durchhaltevermögen! Jetzt weißt du zumindest schon, worauf du dich einlässt und kannst dich gedanklich darauf vorbereiten. Wir haben leider oft die Angewohnheit, aufzuhören sobald es schwierig wird. Das wird dir jetzt hoffentlich nicht passieren 😉
Und wenn du ganz in Ruhe einen Schritt nach dem anderen gehst, wirst du merken, dass es gar nicht so viel ist. Es sind ein paar Schritte, ja, aber dafür sind sie sehr klein.